Wenn Algorithmen Verträge prüfen
Der Fachkräftemangel setzt Rechtsabteilungen unter Druck. Entlastung versprechen KI-Anwendungen. Künstliche Intelligenz kürzt aufwendige Vertragsprüfungen ab.
In keiner anderen Branche in Deutschland fehlten 2021 laut KfW-Ifo-Fachkräftebarometer so viele Fachkräfte wie in der Rechts- und Steuerbranche. Eine Folge: Unternehmen gewinnen in vielen Geschäftsbereichen zwar Effizienz durch digitale Tools und Automatisierung, verlieren das Tempo aber in ihren Rechtsabteilungen: Juristische Prüfungen brauchen Zeit, Konzentration und Fachwissen. Sie gehörten bisher zu den Aufgaben, die sich nicht digital beschleunigen ließen. Das ändert sich jetzt allerdings.
Künstliche Intelligenz (KI) hält Einzug in die Rechtsabteilungen. Wo sich Juristen früher stundenlang durch Dokumente und Aktien lesen mussten, sollen smarte Algorithmen auf Knopfdruck Erkenntnisse liefern – und obendrein menschliche Schwächen ausgleichen: Denn anders als Juristen ermüdet eine KI nicht. Sie liefert – einmal konfiguriert – gleichbleibende Qualität, Fehler nahezu ausgeschlossen.
Bis zu 40 Prozent schneller
Wird künstliche Intelligenz Juristen also bald ersetzen? Nein, aber sie kann zeitintensive Prüfungen bereits heute signifikant abkürzen. Vor allem in der Vertragsprüfung liefern KI-Anwendungen erstaunliche Verbesserungen.
Das Karlsruher KI-Unternehmen thingsTHINKING gehört mit seiner Lösung semantha® zu den Vorreitern in der “Para”-Legal-Tech-Szene. „Mit semantha® sparen Juristen bis zu 40% der Zeit, die sie sonst für Vertragsprüfungen einplanen mussten“, betont CEO und Gründer Sven Körner. Das Geheimnis hinter dem Effizienzgewinn: Der KI-Algorithmus ist in der Lage, Dokumente auf Bedeutungsebene zu verstehen und kann so bei verschiedenen Prozessen mit Dokumenten bzw. Text unterstützen.
KI-Anwendung versteht Texte
Ändern Geschäftspartner Vereinbarungen oder Verträge, mussten Juristen bestehende und neue bisher manuell abgleichen. Zwar existieren Tools, die identische oder abweichende Passagen in digitalen Dokumenten anzeigen, doch die Ergebnisse sind bis dato meist nicht verlässlich. Denn die Anwendungen gleichen Texte Wort für Wort ab. Sobald Inhalte anders formuliert sind als im Begriffset der Software vorgesehen oder an einer anderen Position im Dokument stehen, werden diese nicht erkannt.
Hier spielen KI-Anwendungen wie semantha® ihre Stärke aus: Da die Software die Bedeutung von Worten versteht, erkennt sie Inhalte in jeder Formulierung. Anwender können alte und neue Textdokumente analysieren und definierte Passagen prüfen lassen, oder sich Neuerungen und Änderungen aufzeigen lassen.
Der Mensch hat das letzte Wort
Auch bei völlig neuen Verträgen hilft künstliche Intelligenz, Risiken zu erkennen: Verknüpfen Unternehmen das Tool mit internen und externen Datenbanken, kann semantha® Verträge zum Beispiel auf Einhaltung von DIN-Normen oder Vertriebsvereinbarungen prüfen. Problematische Passagen kennzeichnet die Software. semantha® folgt dem Human-in-the-Loop-Ansatz, die finale Prüfung bleibt immer beim Anwender. „Aber die KI leistet Vorarbeit, die den Weg zur Entscheidung radikal abkürzt“, so Körner.
In Zukunft Mainstream
Die Qualität dieser Vorarbeit ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen den derzeit erhältlichen KI-Vertragsprüfungstools. Viele Algorithmen müssen erst über Monate hinweg trainiert werden, damit der Abgleich zwischen Unternehmensvorgaben und neuen Dokumenten gelingt. Einige Tools bieten vortrainierte KI, was die Dauer und Kosten des Trainings reduziert. Bei semantha® entfällt diese Lernphase aber komplett. Denn die KI liest und versteht Texte ähnlich wie ein Mensch. Das macht die Anwendung kosteneffizient und zudem vielseitiger als andere Lösungen.
Geschäftsführungen haben ihre anfängliche Skepsis gegenüber KI mittlerweile abgelegt. Stattdessen läuft das Wettrennen, wer die noch junge Technologie am geschicktesten zu seinem Vorteil einsetzt, auch im Rechtsbereich. Analysten prognostizieren, dass der Legal-Tech-Markt von 27,6 Milliarden Euro (2021) auf 35,6 Milliarden Euro 2028 wachsen wird. Sven Körner ist sich sicher: KI wird bald Standard in der Rechtsarbeit: „Die Digitalisierung treibt das Tempo derart an, dass Rechtsabteilungen ohne KI zu Wachstumsbremsen werden. Das kann sich kein Unternehmen leisten.“
Autor: Paul Henkel. Bild: AdobeStock / Pablo Lagarto
Dieser Artikel ist im Rahmen des „Swiss Innovation Forum“ am 19. November 2022 in einer Sonderbeilage der „Neue Zürcher Zeitung“ erschienen.